Geschichten

Wunder zu verkaufen

2. Juli 2019

Scan 1

Smilla musste sich jetzt wirklich beeilen. Der Tisch war ein einziges Chaos. Überall auf dem Fußboden waren Schachteln und Kartons geöffnet. Smilla fuhr sich durch die Haare. Wie hatte sie so spät dran sein können? Bis zum Abend würde der letzte Schwung Feriengäste für dieses Jahr angereist sein. Die meisten Kinder kamen schon seit fünf oder sechs Jahren hier her. Sie hörte durchs offene Fenster, dass die Ponys im Stall mit den Hufen scharrten. Als könnten sie es auch schon ahnen. Vielleicht war auch ihre kleine Tochter Luzie von Box zu Box gegangen und hatte es in alle Pferdeohren geflüstert. Luzie erzählte den Pferden alles mögliche in die weißen, braunen und schwarzen Ohren.
Im Radio lief der Seewetterbericht. Die ersten Herbststürme waren im heran rollen. Smilla setzte sich einen Moment auf ihre geliebte Küchenbank. Mit Schwung schob sie den dicken Kater ein Stück zur Seite. Rumpus, der gute alte Fellopa, verstand es, sich so breit zu legen, dass ihm selten jemand seinen Platz streitig machte. Smilla trank einen Schluck lauwarmen Kaffee und verbot sich den Blick auf die Küchenuhr. Wenn sie nicht dauernd hin schaute, würde die Zeit vielleicht Erbarmen zeigen und etwas langsamer vergehen.
So viel ist es doch gar nicht mehr, sprach sie sich selber Mut zu. Die Wundertüten verpacken, ein paar frische Blumen auf die Wohnungen verteilen, Wurststücke anbraten für die zwei riesigen Töpfe Steckrübensuppe. Fertig.
Die Suppe gab es als Willkommensessen, das war Tradition solange sie denken konnte. Auch wenn es kaum Leute gab, bei denen Steckrüben noch auf den Einkaufszettel gehörten.
Die Wundertüten fertig packen, dass war das Wichtigste. Wundertüten mussten nämlich mindestens eine Nacht ruhen, eigentlich länger. Sonst waren sie nicht wundersam genug und knisterten weder noch glitzerten sie vor Geheimnis. Und das war nun einmal das ganz besondere an ihrem kleinen Laden auf dem Ferienhof. Sie wusste, dass die Kinder sich schon ein ganzes Jahr lang darauf freuten, wieder auf dem Hof Urlaub zu machen. Und irgendwann, wenn die Streichelziegen mit Zwieback gefüttert waren, alle Ponys gestriegelt, geritten und zurück auf der Weide, das Mittag eilig verputzt und auch sonst gerade nichts auf dem Hof zu tun war, dann kam das eine oder andere mit seinem Taschengeld in den Laden gestürmt und suchte sich eine Wundertüte aus. Das brauchte dann seine Zeit. Da wurde erstmal genau geguckt, was für Umrisse die Tüten so hatten. Vorsichtig schütteln oder befühlen war erlaubt. Die Tüten waren aus dickem Packpapier und mit Zwirn auf der alten Nähmaschine oben zugenäht. In tiefblauer Farbe mit bauchigen Buchstaben war auf Jede ganz groß Wundertüte gepinselt. Goldene Spritzer schimmerten beim hin und her bewegen wie die Strahlen von Wunderkerzen.
Luzie schaute zur Küchentür herein als ihre Mutter mit dem Kopf gerade tief in einem großen Karton steckte. Das sah wirklich komisch aus.
“Hallo Mamas Hintern, hast du Mama gesehen?”
“Grumpf” kam es irgendwo aus den Tiefen des Kartons. Smilla schaute mit roten Kopf wieder hoch und seufzte.
“Wusst` ichs doch, hier sind noch welche von den – ah Luzie, gut das du kommst. Da sind noch Eierkuchen für dich und kannst du mir vielleicht doch schnell helfen? Ich glaube, mir wird die Zeit knapp.”
Luzie stöhnte. Das war nichts neues. Bei Smilla war die Zeit meistens knapp. Aber dafür war ihr kleiner Laden auch wunderschön, das sah Luzie ein. Es duftete nach frisch gekochten Marmeladen, nach Bienenwachskerzen, nach Zimt, Thymian und Lavendel. Und zwischen Stoffen und in den Regalen und Schränken, auf den Tischen, Fensterbrettern und in dem alten Bauernbett gab es selbst für Luzie immer wieder Überraschungen zu entdecken.
“Soll ich die Blumen machen?”
“Ah, das wäre so schön, danke dir mein Schatz”. Smilla drückte Luzie einen Schmatzer auf die Nase, zwischen die vielen Sommersprossen.
Luzie schnappte sich den Belegungsplan der Ferienwohnungen und die Gartenschere.
“Du brauchst nur die Wohnungen auf dem Hof machen, zur Mühle radel ich nachher selber rüber.”
“Ist gut. Herbstferien, Mama.” Luzie klimperte vielsagend mit den Augen. Sie schnitt eilig ab, was noch schön blühte im Garten hinter dem Herrenhaus. Ein paar Kletterrosen waren noch gut und die Dahlien. Luzie verteilte die Blumen auf die Küchentische passend zu den Vorhängen. Als sie fertig war, ging sie noch einmal den Plan durch, ob sie auch wirklich hinter jeder Wohnung eine kleine Bleistiftblüte gemalt hatte; ihr Zeichen, dass dort Blumen in der Vase standen.
Gut, sie hatte alle elf Wohnungen versorgt. Der Hof würde noch einmal richtig voll werden, bevor die ruhigeren Monate anbrachen. Luzie freute sich. Auf die Besucher in Kutscherhaus 2 ganz besonders. Natürlich hatte sie auch noch einmal überprüft, ob ihre Nachricht, die sie schon vor Tagen dort im Schrank versteckt hatte, noch an dem unteren Schrankfach klebte. Ja, alles war an Ort und Stelle.
Luzies Magen konnte jetzt den einen und anderen Eierkuchen vertragen. Als sie die Stiefel abstreifte, hörte sie die Nähmaschine rattern. Das war ein gutes Zeichen. Auf einen Teller türmte sie sich die Eierkuchen und klebte sie mit Sirup zu einem Turm. Beim Finger ablecken merkte sie, dass sie das Händewaschen vergessen hatte und holte das schnell an der Spüle nach.
Smilla schnitt den roten Faden der letzten Wundertüte ab, schwungvoll und erleichtert. 40 geheimnisvoll gefüllte Tüten waren sorgfältig in zwei hölzerne Apfelkisten gesteckt. Das wäre geschafft. Smilla schaltete die Nähmaschine ab, streichelte zärtlich über die Tüten, als wollte sie sagen, so meine lieben Wunder, und jetzt wachst alle noch ein Stückchen. Dann band sie sich rasch ihre Küchenschürze um, stellte zwei Pfannen mit Butterschmalz auf und schnitt eine ganze Schüssel voll Bockwürste in dicke Scheiben.
“Ach ja, ach ja.” Smilla murmelte noch ein wenig vor sich hin und ihre Wagen trugen das Rot der einen oder anderen Heimlichkeit aus den Wundertüten.
Luzie wendete die brutzelnden Wurstscheiben in den Pfannen und ließ immer mal ein Stück im Mund verschwinden.
“Genug jetzt, Luzie!”, mahnte Smilla. Jetzt erlaubte sie sich wieder, auf die Uhr zu sehen und summte vergnügt. Sie lagen genau richtig in der Zeit. Nachher würde Oma Golda kommen und die Tische eindecken. In einer halben Stunde würden wohl die meisten Gäste eintrudeln.
Smilla schmierte Schwarzbrotscheiben mit Butter, bestreute sie mit reichlich Petersilie, Pfeffer und Meersalz und stellte sie noch einmal kalt. 19 Uhr würden alle an den Tischen sitzen und der ein oder andere Blick würde im Laden umher linsen, was es dieses Jahr an neuen Schätzen zu finden gab.
Über die Jahre hatte Smilla es sich zum heimlichen Spaß gemacht, Wetten mit sich selbst abzuschließen, wer von den Stammgästen wohl welchen Schal oder welche Tasse erstehen würde. Doch, doch, sie kannte ihre Gäste ganz gut, auch wenn sie immer nur für wenige Tage ihr Leben bei ihr teilten.
Und selbst beim Packen der Wundertüten hatte sie dieses oder jenes bestimmte Kind im Sinn. Und Smilla war sich sicher, dass die Kinder die ihnen leise zugedachte Wundertüte finden würden.
So war das nämlich mit den kleinen und großen Wundern.
Sie fanden alle den Weg nach Hause.

Bild: Batti

Kleine Geburtstagsgeschichte für Frische Brise. Sie weiß schon, warum. :) Alles Liebe!!

Only registered users can comment.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.